Susanne Bock erzählt über ihr Leben

Das Leben der Susanne Bock

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Susanne Bock wurde im Mai 1920 als Kind jüdischer Eltern geboren - ihre Eltern haben sich schon sehr früh getrennt, sodass sie keine Geschwister hatte. Die Trennung der Eltern führte dazu, dass Geld in der Familie immer sehr knapp war und die Mutter versucht hat, sich und die Tochter finanziell über Wasser zu halten. So war auch die Wahl einer Schule nicht von den Neigungen von Susanne abhängig, sondern von der Frage, an welcher Schule sich die Mutter das Schulgeld leisten konnte.

1932 trat Susanne den "Roten Falken", der Jugendorganisation der Sozialdemokratischen Partei, bei, bereits in der Volksschule besuchte sie eine Singgruppe der "Kinderfreunde", einer sogenannten Vorfeldorganisation der Sozialdemokratischen Partei. Die Februarkämpfe 1934 und das damit einhergehende Verbot der sozialdemokratischen Partei in Österreich führte dazu, dass auch die junge Susanne Bock nun illegal agierte, sie vertreute aus Papier gebastelte sozialistische Parteiembleme in den Straßen, beschmierte Wände und nahm an Demonstrationen teil. Ende April 1936 (wenige Tage vor ihrem 16. Geburtstag) wurde sie verhaftet und in das Gefangenenhaus auf der Elisabethpromenande überstellt, wo sie einige Tage in Haft verbrachte.

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Mit dem Anschluss 1938 änderte sich auch für Susanne das Leben. Ihre Familie, die den jüdischen Glauben nicht praktizierte und in der es viele sogenannte "Mischehen" gab, war bereits vor dem Anschluss gelegentlichem Spott ausgesetzt, auch mit der Volksschullehrerin, einer illegalen Nationalsozialistin, hatte Susanne öfters Schwierigkeiten. Von den Geschwistern von Susannes Mutter blieb nur ein Bruder während des NS-Regimes in Österreich - er überlebte den Krieg gemeinsam mit seinem Sohn als sogenanntes "U-Boot". Die übrigen Geschwister verließen mit ihren Familien Österreich. Susannes kranker Vater wurde 1942 hingegen nach Minsk deportiert, verstarb jedoch während des Transports.

Susanne spürte die ersten unmittelbaren Folgen des Anschlusses, als sie am 12. April 1938 ausgeschult wurde, indem der Schuldiener in die Klasse kam, um zu verlesen, dass die jüdischen Schüler die Schule augenblicklich zu verlassen hätten. Im 20. Wiener Gemeindebezirk wurde behelfsmäßig eine Schule für jüdische Schülerinnen und Schüler eingerichtet, was es Susanne noch ermöglichte, im Juni 1938 zur Matura anzutreten, die sie auch bestand. Ein Maturazeugnis wurde ihr nicht ausgehändigt, der Schuldirektor hat ihr lediglich eine formlose Bestätigung über die bestandene Matura in die Hand gedrückt. Das eigentliche Maturazeugnis wurde von ihrem damaligen Freund und späteren Mann, Wolfgang Bock, abgeholt und bis zu ihrer Rückkehr nach Österreich 1946 verwahrt.

Die Beziehung zwischen Wolfgang und Susanne - er Arier, sie Jüdin - galt als Rassenschande, die von der Wiener Bevölkerung mit Gewaltexzessen geahndet werden konnte und die auch vom Regime bekämpft wurde. Treffen in der Öffentlichkeit waren ihnen de facto unmöglich, das Paar fand aber den Ausweg, in den frühen Morgenstunden gemeinsame Spaziergänge zu unternehmen, um so miteinander Zeit verbringen zu können.

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Nach der Matura im Juni 1938 erfuhr Susanne, dass mit Verhaftungen von Menschen, die auf Polizeilisten aus der Zeit des Austrofaschismus gefunden wurden, begonnen wurde. Da ihre Verhaftung im Jahr 1936 polizeibekannt war, entschloss sie sich augenblicklich zur Flucht aus Wien. Sie reiste 1938 erst nach Mailand und kam nach einer Odyssee über Frankreich im Februar 1939 in England an.

Susannes Mutter verließ Wien nach den Novemberprogromen 1938 und floh nach England. In der Wohnung verblieb eine jüdische Familie aus dem Burgenland, die nach dem Anschluss aus dem Burgenland vertrieben wurde, da man bereits unmittelbar nach dem Anschluss das Ziel hatte, dass das Burgenland "judenrein" zu sein habe.

1940 heiratete Susanne in England ihren ersten Mann, den Tschechoslowaken Ivan Lipscher. Nach dem Kriegsende 1945 reiste sie mit ihrem Mann nach Zilina in der Tschechoslowakei. Die Familie ihres Mannes - Mutter, Schwester mit Ehemann und kleiner Tochter - wurde während des Krieges deportiert und ist nicht zurückgekehrt - es ist sehr wahrscheinlich, dass sie umgekommen sind. Einige Verwandte ihres Mannes haben in einem Lager überlebt und sind nach Zilina zurückgekehrt. Susanne war sehr bestrebt, rasch slowakisch zu lernen, wurde sie doch in Zilina häufig entweder "Deutsche" oder "Jüdin" genannt, da es auch nach dem Kriegsende in der Tschechoslowakei zu einigen Progromen gegen die jüdische Bevölkerung kam, ist verständlich, dass Susanne Angst hatte, dass auch sie Repressalien erleiden muss.

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Ende 1945 erhielt Susanne in Zilina einen Brief ihres früheren Freundes Wolfgang Bock. Sie verließ daraufhin ihren Mann und machte sich am 6. Jänner 1946 auf den Weg nach Wien, wo sie am 8. Jänner ankam. Nach der Scheidung von ihrem ersten Mann am 9. Mai 1949 heiratete sie Wolfgang Bock am 23. Juni 1949.

Das Wiedereinleben in Wien wurde Susanne Bock jedoch nicht leicht gemacht. Sie war bitter enttäuscht, als sie feststellen musste, dass ihr Verständnis, Mitgefühl, Entgegenkommen - ja, vielleicht auch Schuldgefühle den Juden gegenüber - versagt blieben. Sie machte die Erfahrung völliger Verständnislosigkeit seitens der Bevölkerung, eines konsequent gezeigten "Nichtwissens" gegenüber dem, was geschehen war, der zur Schau getragenen Unschuld anstelle von Mitschuld. "Verfolgte" waren in der damaligen Diktion nur vertriebene Volksdeutsche, denen Hilfe und Mitgefühl zustanden. Dass jedoch auch allein aus Wien 180.000 Jüdinnen und Juden auf grausame Weise "entfernt" wurden, denen man zuvor alle möglichen Schikanen und Misshandlungen angetan hatte, die beraubt wurden - ja, das waren ja nur Juden in den Augen der Österreicher.

Jenen Jüdinnen und Juden, denen es gelungen war, ihr Leben zu retten, begegnete man mit der Haltung, dass diese den Krieg ja sehr bequem verbracht hätten, wohingegen die unschuldigen Österreicher - das erste Opfer deutscher Aggression - so viel erdulden mussten.

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Dieses Unverständnis zeigt sich in einer Begegnung, die Susanne Bock schilderte, als sie Jahre später versucht hatte, die Zeit ihrer Emigration in England auf die Pensionszeiten anrechnen zu lassen. Der Beamte begutachtete ihre Papiere und lehnte das Ansuchen ab. Auf Susannes Protest hin stellte er die polemische Frage "gnädige Frau, ja weshalb sind Sie denn weggegangen?"

Aber auch im Umgang mit Hilfsorganisationen zeigte sich, dass der Antisemitismus in Wien immer noch gang und gäbe war. Wurde die Hilfeleistung von Hilfsorganisationen an die nichtjüdische Wiener Bevölkerung freudig begrüßt und dankbar angenommen, wurden jüdische Empfänger solcher Unterstützungen voll Neid angefeindet, wenn sie von Glaubensgenossen im Ausland durch jüdische Hilfsorganisationen unterstützt wurden.

Auch bei der Arbeitssuche gab es von offizieller Stelle keine Unterstützung für Susanne. Sie hat im Jahr 1938 die Matura abgelegt, jedoch keinen Beruf erlernt. Ein Studium war ihr durch ihre Flucht nicht möglich, die Berufe, die sie - durch Firmenzeugnisse nachweisbar - im Exil ausgeübt hatte, berechtigten sie in Österreich nicht zur Ausübung eines Berufs. Ihre Fremdsprachenkenntnisse halfen ihr später, eine Anstellung in der Pressestelle der britischen Besatzungsmacht zu erlangen, wo sie als Sekretärin arbeitete, später arbeitete sie für das "American Joint Distribution Committee".

Selbst die Wohnungssuche stellte sich als schwierig heraus. Die Wohnung, in der Susanne und ihre Mutter bis 1938 lebten und welche die Mutter bis zu ihrer Flucht nach den Novemberprogromen bewohnte, existierte noch. Susanne erhob 1946 Anspruch auf die Mietwohnung, jedoch gab es für Mietrechte keine entsprechende Gesetzesgrundlage. Das Wohnungsamt vermittelte ihr eine sehr kleine Wohnung, die als Möbellager gedient hat. Der Vormieter - ein ehemaliges SS-Mitglied - wurde offensichtlich von den übrigen Mietern über die Neuvermietung informiert und beschwerte sich bei Susanne, dass "seine" Wohnung vergeben wurde und seine eingelagerten Möbel entfernt worden waren. Der Hausverwalter - auf der Seite des ehemaligen Mieters - verweigerte die Annahme des Mietzinses, damit kein neues, rechtskräftiges Mietverhältnis entsteht. Susanne musste deshalb die Miete auf ein Gerichtskonto einzahlen. Wenn sie am Abend heimkam, gab es in der Wohnung keinen Strom. Nachbarn hatten sich aus dem Sicherungskasten am Gang Sicherungen "ausgeliehen" und dann "vergessen", sie zurück zu geben. Susanne musste also jeden Morgen am Gang die elektrischen Sicherungen ausschrauben, in ihre Wohnung bringen, und abends wieder einschrauben. Eines Abends, als Susanne nachhause kam, konnte sie ihre Wohnung nicht aufsperren. Die übrigen Hausparteien erklärten ihr schadenfroh, der "Besitzer" hätte die Türe durch einen Schlosser öffnen und ein neues Schloss anbringen lassen. Mit viel Glück (der Polizist war ein Nazigegner aus dem ehemaligen französischen Widerstand) bekam sie die Wohnung mit altem Schloss und Schlüsseln wieder zurück. Der Vormieter klagte jedoch später vor Gericht die Rückgabe der Wohnung ein - Susanne, die mittlerweile mit Wolfgang Bock verheiratete war - musste also eine neue Wohnung suchen.

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Susanne Bock beschreibt insbesondere in ihrem Buch "Heimgekehrt und fremd geblieben" ihr Leben nach dem zweiten Weltkrieg mit allen Höhen und Tiefen, die sie erlebt hat. 1978 begann sie ihr Studium der Sprachwissenschaften, im Jahr 1993 promovierte sie zur Doktorin der Philosophie. Erst im Rahmen ihres Studiums und dem Austausch mit Kolleginnen und Kollegen verlor sich endlich ihr Gefühl der "Unwillkommenheit", welches sie als rückgekehrte Exilantin seit 1946 wahrgenommen hatte.

Als Zeitzeugin hat sie immer über das Erlebte berichtet, "niemals vergessen" und "wehret den Anfängen" waren ihre Botschaften, für die sie sich Zeit ihres Lebens einsetzte und in vielen Gesprächen an die folgenden Generationen weitergab. Sie blieb ihr gesamtes Leben eine sehr politische Person.

Susanne Bock starb am 30. Juli 2022 im 103. Lebensjahr in Wien.